Berlin. Einige Krankheiten sind seit der Corona-Pandemie rückläufig. Doch nun glauben manche, sogar häufiger krank zu werden. Was ist da dran?
- Zahl der Erkältungen scheint mit Ende der Corona-Maßnahmen zuzunehmen
- Husten, Schnupfen und Grippe fallen mit Ende von Masken- und Abstandspflicht zusammen
- Ist unser Immunsystem geschwächt? Mediziner erklären, was dahinter steckt
Die vorerst letzte Corona-Winterwelle vorbei, das Thermometer klettert auf angenehme Temperaturen, aber plötzlich: Hier ein Schnupfen, da ein Magen-Darm-Virus, die Kinder bringen ebenfalls gefühlt ständig Krankheitserreger aus der Kita mit.
Es entsteht der Eindruck: Mit einem Mal häufen sich fast vergessene Erkrankungen wieder, der eigene Körper nimmt nun alles mit. Schließlich liegen ja zwei Jahre hinter uns, wo kaum ein Durchkommen war: Maskenpflicht, strenge Reisebeschränkungen und überwiegend Arbeiten im Homeoffice. Umso mehr fällt nun jeder noch so kleine Husten oder Schnupfen – zumal im Sommer – auf.
Zufall – oder steckt mehr hinter den gehäuften Fällen? Sind unsere körpereigenen Abwehrkräfte nach all den Corona-Maßnahmen außer Übung? Haben es unsere Immunsysteme verlernt, sich gegen die sonstigen Krankheitserregern zur Wehr zu setzen? Eine falsche Annahme, sagen Mediziner.
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Lahmes Immunsystem: Sind unsere Abwehrkräfte aus dem Training?
Richtig ist zwar: Tatsächlich haben sich laut Statistiken in der Corona-Pandemie viele Krankheiten eindeutig rückläufig entwickelt, darunter die Grippe (Influenza) oder aber Keuchhusten. Das bestätigt etwa Bernd Salzberger, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie vom Universitätsklinikum Regensburg.
Unter anderem hatte bereits Anfang 2021 das Robert Koch-Institut (RKI) in einer Auswertung zu mehreren meldepflichtigen Krankheiten von Tuberkulose bis hin zu Hepatitis E belegt: Zwischen März und Anfang August 2020 wurden etwa ein Drittel weniger Fälle gemeldet als mit Blick auf die Werte des Vorjahres zu erwarten gewesen wäre.
Ausnahme: Covid-19. Einen besonders starken Rückgang verzeichneten dem RKI zufolge etwa Atemwegserkrankungen – eine logische Auswirkung der verordneten Corona-Maßnahmen. Maskentragen und Abstandhalten verhindern Tröpfcheninfektionen wirksam.
Seit Frühjahr aber Beschränkungen vielerorts abgeschafft, Abstände werden wieder enger und die Maske kommt weniger oft zum Einsatz. Über Tröpfchen und Aerosole in der Luft können sich viele Krankheitserreger somit wieder einfacher zwischen Menschen übertragen. Welche Bild ergibt sich dadurch? Ungewöhnliche Entwicklungen zeigen sich, schaut man auf Zahlen der Arbeitsgemeinschaft Influenza am RKI. Darin geht es neben Covid-19 und Grippe um verbreitete Erkältungserreger wie etwa Rhinoviren.
Grippewelle scheint verspätet und schwächer auszufallen
Influenzaviren zum Beispiel sind erst seit Ostern bei Kindern im Aufwind – also zu einer Zeit, in der die Saison normalerweise dem Ende entgegengeht. Nach der ausgefallenen Grippewelle vor zwei Saisons deuten aber auch die Zahlen für 2021/22 insgesamt noch auf ein sehr verhaltenes Geschehen hin.
Die Kurve zur geschätzten Rate von Atemwegserkrankungen insgesamt in der Bevölkerung spiegelt dies ein Stück weit wider: Sie bewegt sich seit Januar deutlich über der sehr stark von Corona geprägten Saison 2021/21, erreichte aber nie die Höhen der drei Saisons vor der Pandemie, in denen sonst die Grippewelle dominierte. Stattdessen scheint sich das Geschehen nun länger ins Frühjahr hineinzuziehen: Für die vergangenen Wochen weist das RKI höhere Werte aus als zu dieser Zeit in den vier vorigen Saisons.
Hausärzte sehen aber keine völlig aus dem Rahmen fallende Situation. „Aktuell beobachten wir in den Hausarztpraxen keine flächendeckende, auffällige Häufung von respiratorischen Erkrankungen“, teilt ein Sprecher des Deutschen Hausärzteverbandes mit. „Regional kann sich die Situation unterschiedlich darstellen, sodass die Hausärztinnen und Hausärzte dort besonders viele Patientinnen und Patienten mit entsprechenden Symptomen behandeln.“ Bundesweit sei jedoch kein eindeutiger Trend erkennbar.
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Immunologe: Abwehrkräfte bilden sich nicht zurück wie Muskeln
Doch was ist dran am viel geäußerten Verdacht, die Immunsysteme seien durch die Pandemie beziehungsweise durch die Corona-Maßnahmen geschwächt worden?
„Das Immunsystem ist kein Muskel: Es bildet sich nicht zurück, wenn es nicht oder weniger gebraucht wird“, sagt der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Carsten Watzl. Das Immunsystem sei in den vergangenen zwei Jahren sicherlich ein Stück weit geschont worden, aber nicht überflüssig geworden. „Es hatte ja dennoch zu tun: Menschen kommen nicht nur über die Atemwege, sondern auch über die Haut oder die Nahrung mit Krankheitserregern in Kontakt, so dass das Immunsystem anspringt.“
Der Immunologe hat einen anderen Erkläransatz: Bei manchen Erkältungskrankheiten sei man einfach alle zwei, drei Jahre fällig. „Dafür sind zum Beispiel saisonale Coronaviren ein Beispiel. Wer die während der vergangenen zwei Jahre verpasst hat, kann jetzt mehrere Erkältungen nacheinander kriegen. Das ist ein Nachholeffekt, ähnlich wie man das bei den RSV-Infektionen bei Kindern vergangenen Herbst gesehen hat.“
Gefühlte Krankheitswelle womöglich nur verzerrte Wahrnehmung
RSV steht für Respiratorisches Synzytial-Virus. Es kann schwere Lungenentzündungen hervorrufen und insbesondere für Frühgeborene, Säuglinge und Kleinkinder gefährlich sein. Eine große Welle bei Kindern war auch in anderen Ländern aufgetreten.
Fachleute sehen zudem – ebenfalls eine Pandemiefolge – eine gestiegene Aufmerksamkeit für das Thema und womöglich eine dadurch veränderte subjektive Wahrnehmung. „Viele von uns haben sich in der Pandemie daran gewöhnt, lange Zeit am Stück keine Erkältungen mehr zu haben. Dabei war es davor schon so, dass man immer wieder einmal betroffen war“, sagt Watzl.
Affenpocken: Laut Experten keine Folge eines geschwächten Immunsystems
Auch der derzeit beobachtete ungewöhnliche Affenpocken-Ausbruch könne nicht mit vermeintlich durch die Pandemie geschwächten Immunsystemen in westlichen Ländern erklärt werden, sagt Watzl. „Es ist vielmehr so, dass immer häufiger Krankheitserreger aus dem Tierreich auf den Menschen überspringen.“
Das liege daran, dass Menschen zunehmend in bisher unerschlossene Gebiete vordringen – und an den zahlreichen internationalen Reisebewegungen. „Wir werden solche Erkrankungen in Zukunft noch häufiger sehen. Wenn man an das Aufkommen von Mers, Sars und Sars-CoV-2 denkt, sind die Affenpocken eher harmlos“, sagt Watzl.
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Grippewelle: Impfmüdigkeit im Herbst „wäre fahrlässig“
Vorsicht ist aus Sicht von Wissenschaftlern im kommenden Herbst geboten: „Wenn wir in diesen Jahren nun nicht mit Influenza in Berührung gekommen sind, kann es sein, dass uns das Virus in der Evolution „davonläuft“, wir es also irgendwann mit einem Virus zu tun haben, das wir weniger gut kennen“, schildert Salzberger. Das Immunsystem vergesse aber die alten Begegnungen nicht so schnell.
Antikörper gegen Influenza nähmen über die Zeit der Pandemie kaum ab. Dennoch: „Impfmüdigkeit in diesem Herbst und Winter wäre fahrlässig“, betont Salzberger. „Jede Influenza-Impfung verbessert unsere Immunantwort auf eine Influenza-Infektion und das ist gerade für Risikopatienten extrem wichtig.“ (mahe/dpa)
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Dieser Artikel erschien zuerst auf morgenpost.de.
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