Essen. Tausende Lehrkräfte fehlen: Die drei Ruhr-Unis wollen junge Menschen für den Beruf begeistern und versuchen es mit einem ungewöhnliches Projekt.
Tobend, drängelnd und schwatzend strömen die Kinder in den Klassenraum der 6A. Heute sind sie noch aufgeregter als sowieso schon. Nicht nur, weil die letzte Englischstunde vor der Klassenarbeit ansteht, sondern auch, weil es einen Gast zu bestaunen gibt: „Ich bin Amine“ stellt sich die 19-jährige Abiturientin kurz vor und die Kinder gucken. „Ich mache heute mit euch Englisch.“
Natürlich steht sie nicht ganz allein vor der Klasse, Englischlehrer Dennis Münstermann (32) steht neben ihr und begrüßt seine Klasse. „Good morning all together“, schallt es aus 25 Kindermündern zurück. Münstermann verteilt neue Arbeitsblätter - und sofort wandelt sich das allgemeine Gemurmel in konzentrierte Stille.
„Austausch Lehramt“ bietet neue Perspektive
Wir sind an der Bertha-Krupp-Realschule in Essen. Ein nüchterner grauer Würfelbau in einer ruhigen Seitenstraße im nördlichen Stadtviertel Frohnhausen. Amine kennt die Gegend, im Nachbarstadtteil Borbeck kam sie zu Welt, dort lebt ihre Familie. Dass sie ein Kopftuch trägt, scheint hier keinen der Schüler zu irritieren. „Ich habe mein ganzes Schulleben nur aus der Sicht einer Schülerin gesehen“, sagt Amine. „Jetzt möchte ich die Chance nutzen, um einmal die Lehrerseite kennenzulernen.“
Die Möglichkeit dazu bietet ihr das Programm „Austausch Lehramt“, das von den drei Ruhrgebiets-Universitäten Bochum, Dortmund und Duisburg-Essen sowie dem NRW-Zentrum für Talentförderung gestartet und vom Land unterstützt wird. Die Idee: Oberstufenschülerinnen und -schüler sollen für einen Tag in die Rolle einer Lehrkraft schlüpfen, um den Schulalltag aus einer neuen Perspektive zu erleben. Dabei geht es nicht nur darum, einmal vor einer Klasse zu stehen, sie sollen zugleich das ganze Drumherum miterleben – Unterrichtsvorbereitung, Konferenzen, Klassenbuch schreiben, Elterngespräche führen bis zur Pausenaufsicht – das ganze Programm.
Pfiffige Ideen gegen Lehrermangel
Natürlich geht es darum, mit neuen und möglichst pfiffigen Ideen mehr junge Menschen für den Lehrerberuf zu begeistern. Zwar bemüht sich Schulministerin Dorothee Feller (CDU) mit zahlreichen Maßnahmen, neue Kräfte für den Lehrerberuf zu gewinnen, dennoch sind in NRW rund 6700 Vollzeitstellen nicht besetzt. Da ist jede kluge Idee willkommen, findet auch der Deutsche Lehrerverband.
„Für unser Programm haben wir alle Schulen in NRW angeschrieben“, erzählt Mira Stepec, die das Projekt an der Ruhr-Uni Bochum koordiniert. 160 Lehrkräfte an 84 Schulen machen mit, sie führen in den kommenden Tagen mehr als 140 Hospitanten wie Amine durch den Schulalltag.
„Hallo, Herr Münstermann!“ Auf den Fluren und Treppen wird der junge Lehrer ständig von seinen Schülern begrüßt und angesprochen. „Der ist Lehrer des Jahres“, rufen sie dem Besuch zu und zeigen mit dem Daumen auf ihn. Alle lieben Münstermann. Der 32-Jährige ist Lehrer aus Leidenschaft, 2022 erhielt der engagierte Pädagoge auf Vorschlag seiner Schüler den Deutschen Lehrkräftepreis. Doch jetzt übernimmt nach kurzer Absprache Amine die Stunde.
Amine bekommt einen Extra-Applaus
Mit verteilten Rollen wird laut ein englischer Text gelesen. „Was heißt Invitation?“, fragt ein Junge plötzlich. „Das heißt Einladung“, sagt Amine prompt. Dann geht sie durch die Reihen und hilft den Kindern bei der Übersetzung. Sie macht das so ruhig und selbstverständlich, als hätte sie das schon zigmal gemacht. Dabei ist es ihre Premiere. Und die Klasse zieht mit: „Das ist für uns nix Besonderes“, meint der elfjährige Atanas. „Wir hatten schon häufiger Besuch und haben uns dabei auch gut benommen.“ Am Ende der Stunde sagt Amine: „Sehr schön habt ihr das gemacht. Habt ihr noch Fragen?“ Als der Gong ertönt, bekommt sie von der Klasse einen Extra-Applaus.
Später sagt Lehrer Münstermann zu ihr: „Das hast du echt gut gemeistert, obwohl du ins kalte Wasser springen musstest.“ Man spüre sofort, ob jemand sich wohl fühlt vor einer Klasse oder eher unsicher ist. Sich vor einer Berufsentscheidung einmal selbst auszuprobieren, sei ja auch der Zweck des Programms. „Komm zu uns, wenn du wieder ein Praktikum machen willst“, lobt er sie.
Amine strahlt. „Am Anfang war ich nervös. Ich wusste aber, wie ich vorgehen will und habe es dann einfach gemacht.“ Der Tag, sagt Amine am Ende, habe sie in ihrem Entschluss bestärkt, Lehrerin zu werden. Einen Studienplatz hat sie schon: Im Oktober beginnt sie an der Uni Duisburg-Essen: Englisch und Geschichte.
>>>> Stipendium für Lehramtsstudenten
Um Lehrkräfte für „Schulen in herausfordernden Lagen“ im Ruhrgebiet zu gewinnen, hat ein Bildungsbündnis kürzlich das „Lehramtsstipendium Ruhr“ gestartet. Die Stipendiaten werden mit 300 Euro im Monat bis zu drei Jahre lang gefördert. Finanziert wird das Projekt von der RAG-Stiftung und der Wübben Stiftung Bildung.
Während des Studiums sollen die Studierenden als Lernhelfer an Schulen eingesetzt werden, an denen der Unterstützungsbedarf besonders groß ist. Nach dem Masterabschluss werden die angehenden Lehrkräfte ihren Vorbereitungsdienst an einer „Brennpunktschule“ absolvieren.
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