Iserlohn. Ein Gespräch über Vor- und Nachteile des Föderalismus, das Krisenmanagement in der Corona-Pandemie und die Zukunft mit Jörg H. Trauboth.
„Berlin hat die Möglichkeit, weiter im kontroversen Bund-Länder Krisenmanagement durch die nächsten Monate und Jahre zu stolpern oder mit Professionalität im Krisenmanagement zu überzeugen und damit das Vertrauen der Bevölkerung nachhaltig zu sichern. Wird das Land diesen Schritt wagen?“, sagt diese Woche der internationale tätige Krisenmanager Jörg H. Trauboth über die Corona-Krise. Zum letzten Mal hatte die Heimatzeitung im April mit ihm gesprochen und bereits da hatte er so seine Zweifel, ob vor allem auch Deutschland eben dieser Krise mit einer ausreichenden Form von Professionalität und mit der richtigen inneren Lösungsstruktur begegnet. Personell wie strategisch. Nach einem halben Jahr also ein guter Grund, einmal den Stand seiner Zufriedenheit und seinen Blick auf die „Lage“ abzufragen.
Herr Trauboth, bevor wir zu Ihren Überlegungen zur Pandemie-Krisen-Bewältigung kommen, mal ein Wort zum grundsätzlichen Ansatz. Braucht es am Ende doch nicht weniger als eine Revolution, wenn sich was verändern soll?
Nein, ich suche ja nicht den Zuspruch rechter Populisten, wenn Sie das meinen. Schon gar nicht möchte ich den Föderalismus abschaffen, der unserem Land eine wunderbare kulturelle Vielfalt gibt, in dem Menschen zwischen Leck und Garmisch-Partenkirchen, zwischen Würselen und Görlitz so ganz unterschiedlich sein dürfen. Aber bei Covid-19 geht es nicht um Brauchtum, sondern um eine nationale Krise, die das Potenzial hat, den Bestand des Staates zu gefährden. In den USA spricht man dann von „National Vital Interests“ mit erheblichen operativen Konsequenzen für die Bundes-Exekutive. Auch Frankreich und Österreich greifen mit Vorschriften tief in das innere Gefüge der Länder ein, um das Schlimmste zu verhindern. Deutschland hat dieses in der Covid-19-Phase eins ebenfalls getan, um dann einzelne Maßnahmen auf Druck der Gerichte wieder aufzuweichen.
Das hat unser Volk aber prompt auch verunsichert und auch Gegenreaktionen erst provoziert…
Der Grund ist doch einfach. Unser Land ist gesetzlich und strukturell auf ein Durchregieren in der Krise nicht vorbereitet. Das Infektionsschutzgesetz von 2001 bietet dafür keine ausreichende Handhabe. Die eilig anberaumte gerade beschlossene Modernisierung und Aktualisierung des Gesetzes lindert nur Teilprobleme. Mehr war in der Kürze nicht zu erreichen.
Hört sich zum jetzigen Zeitpunkt auch beim Krisen-Experten nicht nach Zufriedenheit an. Erkennen Sie keinen Plan?
Nein! Die Lockdown-Phase eins wurde überstanden, den Sommer haben wir verschlafen und nun geht’s mit Volldampf in den Teil-Lockdown und in den Nebel. Ergibt sich eine neue Lage, steuert die Politik in den Ländern nach. In Bayern müssen Fitnessstudios auf Druck der Gerichte wieder aufmachen. Es gibt keinen nationalen Pandemie-Masterplan, sondern Management auf der Grundlage von „trial and error“, Versuch und Irrtum. Bisher hat das funktioniert, sogar besser als in den meisten anderen Staaten. Die Bevölkerung macht mit, noch. Unsere Leitplanken sind die täglichen Zahlen mit ihren roten Karten, die neben der Information vor allem eines bewirken: Angst in der Bevölkerung.
Aber in der breiten Masse scheint doch noch so etwas wie Akzeptanz zu herrschen…
Das stimmt. Es ist auch gut, dass wir uns in Rückzug, Geduld und Solidarität üben. Doch die wirkliche Angst besteht darin, keine Gewissheit zu haben. Wie sieht Weihnachten unter Corona-Bedingungen aus? Wie wird das erste Quartal 2021? Kann ich meine Miete bezahlen? Ab wann können Veranstaltungen wieder geplant werden? Werden Reisen im Sommer 2021 wieder möglich sein?
Kann das denn überhaupt jemand wirklich seriös prognostizieren?
Ja, es mag in der Tat einem Blick in die Kristallkugel gleichkommen. Doch, wenn schon keine Klarheit da ist, wo bleibt der Mut in der Politik zur Wahrheit — auch zur negativen? Niemand sagt den Menschen, wie es gesundheitlich und wirtschaftlich weitergehen soll oder könnte. Wir hören vage Andeutungen von zu vielen Stellen. Das schafft Unsicherheit, Raunen im Netz, Querdenker und Verschwörungstheorien. Deutschlands Corona-Krisenmanagement wird durch sich widersprechenden Virologen, die sich teilweise unsäglich in Szene setzen, und durch konkurrierende Ministerpräsidenten bestimmt, denen es nicht nur um das Wohl ihres Landes, sondern auch um die politische Karriere geht. Wäre da nicht die erstaunliche Angela Merkel, die die Länder zusammenhält, sähe es noch übler aus. Wenn die Kanzlerin etwas sagt, horcht das Land wirklich auf. Allein diese Tatsache, dass die Bürger eine Stimme, ein Gesicht brauchen, sollte zu denken geben.
Schauen wir mal auf Zahlen: Das Vertrauen der Bevölkerung in die Bundesregierung lag 2018 (laut Bertelsmann Stiftung) bei 24 Prozent. Man sollte doch glauben, dass es jetzt verschwindend gering ist. Das Gegenteil ist aber der Fall. Umfragen von Forsa zeigen, dass das Vertrauen zur Bundesregierung in der Corona Krise bei 60 Prozent liegt.
Das jedoch ist normal. In der Angst schart sich das Volk um die Herrschenden. Wähler belohnen die Aktionen der Krisen-Lotsen wie die Kanzlerin, Spahn, Altmaier und Scholz, die Optimismus senden und mit einem einzigartigen Kraftakt Geld ausschütten, um die Wirtschaft am Laufen zu halten.
Aber Sie sagen, es sei dennoch Vorsicht ist geboten, denn das Eis für die Regierenden sei dünn.
Stimmt. Es bricht dort, wo positiv getestetes Personal in überlasteten Krankenhäusern eingesetzt wird, wo die Triage-Regeln zum Tragen kommen, ein Mensch in der Familie an Covid-19 stirbt und Menschen nicht zu dem Sterbenden oder Beerdigungen zugelassen sind. Wo bundesweit hygienisch perfekt geführte Restaurants schließen, ganze Branchen kollabieren und Menschen trotz der staatlichen Hilfen ihren Job verlieren. Wo Menschen die Einsamkeit nicht mehr aushalten und ausbrechen und Gewalt im häuslichen Bereich zunimmt. Auch Geduld ist endlich. Die Deutschen haben nicht die Leidensfähigkeit der Russen. Und ganz schlimm: In dieser angespannten Lage schließen sich immer mehr abgedrehte Menschen der Gegenbewegung an.
Aber eigentlich stehen doch mittelfristig alle Zeichen auf eine Entspannung der Lage…
Das sagen Sie! Das Krisenmanagementsystem wird bereits mit Jahresbeginn 2021 auf den Prüfstand gestellt, wenn sich die Hoffnung in den neuen Impfstoff vielleicht doch nicht bewahrheitet – bitte nein – und Medikamente zur Gesundung positiv getesteter Menschen ausbleiben. Das ist die große zentrale Angst der Politik. Dieses Virus hat uns alle überfahren. Es gibt weltweit keine Musterlösung für die richtige strategische Reaktion, aber in Deutschland auch keine überzeugende Linie in der professionellen Beherrschung des Problems. Menschen machen mit, wenn sie überzeugt sind. Dafür braucht es ganz oben einen Leuchtturm, der den sicheren Hafen anzeigt.
Eigentlich loben Sie unter Strich ja die Führung der Kanzlerin, allerdings sagt der Profi-Krisenmanager in Ihnen auch, dass das alles ein Spur zu „light“ ist? Versteh ich das richtig?
Diesem Land fehlt in einer Krise wie dieser die Führung aus einer Hand. Angela Merkel, die endlich nicht passiv, sondern proaktiv regiert, kann nur bitten. Die wesentlichen Instrumente zur Durchsetzung ihrer Ideen in unserem föderalistischen Land fehlen ihr, wie die Verhandlungen mit den 16 Ministerpräsidenten schmerzhaft zeigen, die nicht die Erfüllungsgehilfen des Bundeskanzleramtes sein wollen. Es geht nicht nur um Corona, sondern auch um Machtansprüche. So wird jeder Lockdown oder Teil- Lockdown auch zu einem zeitfressenden Verhandlungsmarathon und am Ende günstigstenfalls zu einem mehrheitlich getragenen Kompromiss. Covid-19-Krisenmanagement verträgt keine Kompromisse, kein „Up-and-Down“–Management, sondern braucht klare bundeseinheitliche Regelungen.
.… was dann aber wieder den föderalen Gedanken widerspricht und in den Landesresidenzen auch nicht als zielführend empfunden und sogar ehrverletzend gewertet werden dürfte.
In der deutschen Politik ist das Prinzip der politischen Führung von oben ja historisch bedingt verpönt. Doch wir leben inzwischen nicht nur in einem ganz anderen Deutschland, sondern in einer vernetzten Welt. Das bedeutet im Fall zentraler nationaler Interessen auch zentrales Handeln. Das nationale Versagen wurde uns spätestens vor vier Jahren beim Terroranschlag durch Anis Amri am Breitscheidplatz bewusst. Die Gefährlichkeit des islamistischen Terroristen war bekannt, die Polizei der Länder diskutierte das mehrfach, doch die länderübergreifende Entscheidungskompetenz fehlte. Zwölf Menschen hätten nicht sterben müssen, 67 wären nicht verletzt worden.
Bei Terror-Fragestellungen wird man ja vielleicht noch Einigkeit unter den Ländern hinbekommen. Vielleicht sogar ein Aufatmen.
Neben Terror ist aber nun Pandemie das zweite große Thema von nationalem vitalen Interesse unseres Landes, das zentrales Handeln erfordert. Ich bin überzeugt, dass es noch ein drittes Thema gibt, das der Länderhoheit entzogen werden sollte, es ist unsere Bildungspolitik.
Wie stellen Sie sich denn nun so eine konzertierte Krisen-Bekämpfung vor?
Pandemie-Krisenmanagement kann nicht heißen, dass die Kanzlerin alle zwei Wochen mit den Ministerpräsidenten um einen Kompromiss ringt. Es wird höchste Zeit einen nationalen Covid-19-Krisenstab im Bundeskanzleramt einzurichten. Er sollte aus diesen drei Ebenen bestehen, einer Entscheidungsebene, dem Krisenstab und zuarbeitenden Experten; ein Konzept, das sich international bewährt hat. Die Entscheidungsebene ist die Bundeskanzlerin, sie hat das letzte Wort. Unter ihr agiert ein Krisenstab, bestehend aus einem kleinen Kernteam und einem größeren Arbeitsstab. Der Leiter des Kernteams könnte der Chef des Bundeskanzleramtes sein, das mit dem emphatischen und kompetenten Helge Braun, dem Bundesminister für besondere Aufgaben, zudem aktuell perfekt besetzt ist. Er ist in Personalunion der nationale Krisenkommunikator, der regelmäßig die Bevölkerung unterrichtet und zum Gesicht der Krise wird. Deutschland hat aktuell zu viele Gesichter. Das mag schön für die Vielfalt sein, ist aber nicht gut für die Sache. Ferner sitzen im Kernteam zum Beispiel ein Vertreter des RKI, der Ressorts Innen, Gesundheit, Arbeit, Wirtschaft und Justiz.
Sie beklagen „zu viele“ Gesichter, aber Ihre unterschiedlichen Ebenen sind auch nicht gerade klein angelegt?
Das stimmt, aber dieses Thema lässt sich auch nicht durch ein Kernteam allein stemmen. In den erweiterten Krisenstab gehören Vertreter aus allen Ressorts sowie ausgesuchte Repräsentanten der Wirtschaft und Kommunen. Der Krisenstab wiederum wird durch externe Experten unterstützt wie das Amt für Bevölkerungs-und Katastrophenschutz, das während der Covid-19-Krise kaum wahrgenommen wurde und mit dem neuen Präsidenten, dem politisch überaus erfahrenen und fachlich geschätzten Armin Schuster, nun hoffentlich seine volle Kompetenz entfalten kann.
Krisenstäbe in Terrorfällen tagen in der Regel ununterbrochen, bis sich die Lage aufgelöst hat. Schwebt Ihnen so etwas auch vor?
Ja, nur so bleibt das Lagebild aktuell. Ein „Rund um die Uhr“–Betrieb bedeutet eine personelle Abdeckung in drei Schichten. Das heißt, im Krisenstab Covid-19 des Bundeskanzleramtes geht das Licht nicht aus. Derzeit besteht eher der Eindruck, dass man auf die neuesten Zahlen des RKI wartet, um dann neu zu justieren. Ziel des neuen nationalen Pandemie-Krisenmanagement muss es sein, die gesamte Expertise direkt bei der Bundeskanzlerin verfügbar zu machen, damit zeitgerechte Entscheidungen getroffen werden können, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Ein Impfstoff mag lindern, ist aber kein Ersatz für ein Pandemie-Krisenmanagement, denn die nächste Variante des Virus steht vor der Tür. Und übrigens: In den USA unter Joe Biden wird das Covid-19-Krisenmanagement Chefsache sein. Der President-elect steht bereits jetzt, noch vor Dienstantritt, einem derartigen Krisenstab vor.
Nehmen wir mal an, das politische Berlin würde sich für Ihre Pläne interessieren und begeistern. Dann wäre aber noch ein dickes Brett zu bohren…
Ein nationaler Krisenstab „Pandemie“ kann nur auf der Grundlage eines neuen nationalen Pandemieplanes, oder besser positiv Bürgerschutzplanes, und flankierende Gesetzesänderungen funktionieren, die dem Bund deutlich mehr operative Möglichkeiten geben, aber die Grundrechte und die Kompetenzen der Länder wahren. Soviel Staat wie nötig, so viel Länderhoheit wie möglich, muss die Devise sein. Ohne Änderung des Grundgesetzes wird es nicht gehen. Der neue nationale Bürgerschutzplan Pandemie muss so sattelfest sein, dass unser Parlament in der nächsten Krise dahinterstehen kann. Und die wird kommen.
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