Kirchenkreis Iserlohn

Mit viel Zuversicht in wild gestartete 20er

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Superintendentin Martina Espelöer freute sich, dass Ulf Schlüter, Theologischer Vizepräsident und für Iserlohn zuständiger Ortsdezernent, beim Jahresempfang sprach, den die 170 Gäste auch wieder gerne zum Netzwerken nutzten.

Superintendentin Martina Espelöer freute sich, dass Ulf Schlüter, Theologischer Vizepräsident und für Iserlohn zuständiger Ortsdezernent, beim Jahresempfang sprach, den die 170 Gäste auch wieder gerne zum Netzwerken nutzten.

Foto: Torsten Lehmann / IKZ

Iserlohn.  Theologischer Vizepräsident der Landeskirche Ulf Schlüter machte beim Jahresempfang des Kirchenkreises deutlich, wie Veränderung gelingen kann.

Die Perspektiven für unsere Gesellschaft im neuen Jahrzehnt und besonders die für die evangelische Kirche – angesichts auch vor Ort zurückgehender Mitgliederzahlen um 1,8 Prozent oder rund 1600 auf 90.000 zwischen Balve und Berchum, Altena und Schwerte – standen im Mittelpunkt des traditionellen Jahresempfangs des Kirchenkreises Iserlohn am Donnerstagabend im Varnhagenhaus.

Bei der Frage, ob es „wilde 20er“ werden, kam der Festredner, der Theologische Vizepräsident der Evangelischen Kirche von Westfalen, Ulf Schlüter, vor rund 170 Gästen aus Gesellschaft, Politik, Verwaltung, Kultur und Bildung mit dem Blick auf die ersten 37 Tage schon ins Grübeln: die erste Nachkriegswahl eines Ministerpräsidenten mit Stimmen der Extrem-Rechten, „ein Freispruch wider besseren Wissens für den US-Präsidenten, der den Rechtsstaat mit Füßen tritt“, der Brexit, „halb China auf der Isolierstation“ und die (schon fast wieder in Vergessenheit geratenen) Brände in Australien – der Anfang stimmt nicht gerade hoffnungsfroh. Und auch die globalen Trends und Phänomene wie besonders Klimawandel, Digitalisierung und Mi­gration, würden das Leben nachhaltig beeinflussen und verändern.

2024: Mehr als die Hälfte in keiner christlichen Kirche

Hinzu komme der demographische Wandel, der neben der bewussten Abwendung von der Kirche durch Austritte, dafür sorgen werde, dass, so Ulf Schlüter, „die 20er das Jahrzehnt sein werden, in dem erstmals nach über 1000 Jahren in Deutschland mehr als die Hälfte der Bevölkerung nicht Mitglied einer christlichen Kirche sein wird.“ Erwartet wird das 2024, eventuell früher. In Großstädten sei es schon jetzt der Fall: So seien im Jahr 2018 in seiner Heimatstadt Dortmund jeweils gut 20 Prozent der Grundschüler katholisch oder evangelisch, 35 Prozent muslimisch und der Rest im wesentlichen konfessionslos gewesen. „Die Gesellschaft wird also künftig ein komplett anderes Bild haben als zu der Zeit, als wir aufgewachsen sind“, sagte der 57-Jährige. Für die christlichen Kirchen sei es daher (überlebens-)wichtig, sich „von Ordnungen, Strukturen, Gewohnheiten und im besonderen von vereinskirchlichen Modellen des 20. Jahrhunderts und speziell der Nachkriegszeit aktiv zu lösen und mutig Neues zu schaffen und auszuprobieren.“ Kirchliche Arbeit werde deutlich stärker exemplarischen Charakter annehmen und konsequent daran zu orientieren sein an dem, was dem Bedarf der Menschen in den jeweiligen sozialen Räumen entspreche.

Wie das Experimentieren aussehen kann, hatte Superintendentin Martina Espelöer in einem Pressegespräch vor dem Empfang erläutert: „Ich denke, dass wir über völlig andere Formen von Mitgliedschaft wie beispielsweise eine auf Zeit nachdenken werden“, sagte sie mit Verweis auch auf Projekte wie „Kloster oder Gemeinde auf Zeit“. Auch anderen Formen von Beitragszahlungen, die viel stärker über Spenden funktionieren, dürfe man sich angesichts des Mitglieder- und damit auch finanziellen Schwundes nicht verschließen. Ein solches Angebot könne man dann beispielsweise im Trauerfall auch Nicht-Mitgliedern machen. Dass die Kirche immer noch das Vertrauen der Menschen genießt und, so die Superintendentin, „sie uns zutrauen, dass wir sie an Wendepunkten ihres Lebens begleiten“, zeige sich an Brautpaaren wie dem, das wegen einer „weltlichen, mehr so freien Trauung“, aber eben in der Kirche, an sie gewendet habe.

Generell würden 50 bis 70 Prozent der Mitglieder der evangelischen Kirche, so machte Ulf Schlüter deutlich, die Mitgliedschaft „punktuell und situationsbezogen aktivieren“, so an Feiertagen oder bei biografischen Übergängen. Viele hätten eben ein „oft sehr diffuses, sehr fragendes Verhältnis“ zur Kirche. „Wir tun aber gut daran, diese Grauzone des christlichen Glaubens und der kirchlichen Beteiligung ernst zu nehmen, zu respektieren und zu akzeptieren.“

Bei den anstehenden Veränderungsprozessen komme indes neben der Feier des Gottesdienstes, die stets im Zentrum jeglicher kirchlicher Aktivität stehen müsse, und der Bildungsarbeit (und insbesondere auch der qualifizierten Ausbildung für kirchliche und diakonische Berufe) der Gemeinde- und der verbandlichen Diakonie als „zentralem Handlungsfeld der Kirche“ die höchste Priorität zu. 83 Prozent der Mitglieder würden als erste und wichtigste Erwartung an die Kirche nennen, dass sie sich um die kümmere, die Hilfe und Unterstützung bedürfen. „Gesellschaftliche Veränderungsprozesse können und werden gelingen und werden zu guten Ergebnissen führen, wo sie entschieden an der unveräußerlichen Würde des Menschen und am Gemeinwohl orientiert sind und bleiben und auf diese Weise die menschgewordene Liebe Gottes dokumentieren“, sagte Schlüter. „Wenn wir dafür einstehen, gibt es vielleicht keine goldenen, auch keine wilden, aber hoffentlich gute und allemal gesegnete 20er Jahre.“

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